So so, Mr Cameron hat also nach Bekanntgabe seines Brexit-bedingten Rücktritts geweint.
Ich hoffe inständig, seine Gemütsäußerung war nicht dem Abschied von einem Amt geschuldet, in dem er sich nicht nur aus internationaler Sicht alles andere als mit Ruhm bekleckert hat. Er sollte vielmehr um die Zukunft seines Landes weinen, dessen Bevölkerung er nicht nur versäumt hat, die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft zu vermitteln, sondern der er in einem Anflug von Schwachsinn und mit dem alleinigen Zweck, eine anstehende Wahlschlappe abzuwenden auch noch die Möglichkeit gegeben hat, mit denkbar knapper Mehrheit eine von falschen Versprechungen geleitete Fehlentscheidung zu fällen.
Man muss als einigermaßen Europa- und zukunftsgläubiger Mensch schon ein wenig verwundert sein, mit welcher Katerstimmung das gar nicht mal so vereinigte Königreich am Morgen nach dem Referendum aufwachte – in einer Welt, in der sich vor allem die Finanzmärkte unmittelbar für das Votum der Briten „bedankten“. Und zu allem Überfluss waren es ausgerechnet Nigel Fromage – äh – Farage und sein Brexiteer-„Kollege“ Boris „Honest“ Johnson, die zentrale Aussagen (lt. eigener Bekundung von Herrn Farage waren es ja gar keine „Versprechen“) der Kampagne postwendend relativierten wenn nicht sogar kassierten.
Es ist aber auch zu doll – erst tingelt Herr Cameron von Gipfel zu Gipfel um den ohnehin schon „Special Deal“ für die Britische EU-Mitgliedschaft immer weiter aufzubohren, so dass der Rest der Gemeinschaft schon mit der Faust in der Tasche mit den Zähnen knirschen musste. Und dann kommen diese Austritts-Philosophen und erzählen ihrer Klientel, dass man auch ohne EU-Mitgliedschaft Zugang zum Wirtschaftsraum behalten könne und somit die Folgen gar nicht schlimm seien – man lediglich das Geld für die Mitgliedschaft einsparen und anders verwenden könne, und sich natürlich nicht mehr dem „Diktat“ Brüssels unterwerfen müsse. Ja wenn es denn so einfach wäre, hier mal einen auf Schweiz oder Norwegen zu machen. Was die Herrschaften übersehen bzw. verschwiegen haben ist, dass auch diese Länder für Vorteile gegenüber der EU mit barer Münze und mit Freizügigkeit bezahlen – zwei Dinge, die die Brexiteers ablehnen – im Gegenzug aber an den Entscheidungen in Brüssel oder Straßburg nicht aktiv mitwirken können. Volltreffer.
Wie Wasser auf die Mühlen derjenigen, die das ewige Austrittsgeheul von der Insel langsam echt nicht mehr hören können, muss das gespaltene Referendumsergebnis wirken – und die Tatsache, dass sich Schotten und Nordiren mit dem Ergebnis alles andere als abfinden wollen. Das Wort vom „Kleinbritannien“ machte schon die Runde – und das Vermächtnis von Herrn Cameron wird auf die Spaltung zweier Unionen reduziert werden. Tolle Leistung.
Was ich mir nach der Brexit-Entscheidung wünsche:
Erstens: Eine EU der klaren Worte und der schnellen Entscheidungen. Die Zusagen an Herrn Cameron sowie alle anderen Zugeständnisse, die den Briten unangemessene Vorteile gegenüber den anderen EU-Mitgliedsländern einräumen, müssen kassiert werden. Sollte es nämlich – was ja immerhin schon anklingt – noch zu einem „Exit vom Brexit“ kommen, sind die ewigen Sonderlocken das letzte, was wir uns noch erlauben können.
Zweitens: Keinerlei Zeitspielchen. Die Briten gehören zu Europa – sie haben das nur mehrheitlich irgendwie noch nicht verstanden. Manchmal setzt Verständnis aber erst ein, wenn die Rumeierei aufhört. Es gab ein Referendum, und auch wenn dieses nicht bindend sein sollte, hat Herr Cameron es durch seine Äußerungen vor der Abstimmung und durch seine Rücktrittsankündigung quasi bindend gemacht. Also gehört das Ding jetzt eingetütet. Sollte es anschließend zu einem Zurückrudern kommen, kann dies genau wie es für den tatsächlichen Austritt vorgesehen ist im Rahmen von Verhandlungen passieren. Aber dann müssen für die Briten die gleichen Regeln wie für alle anderen Mitglieder gelten. Der Sonderstatus wurde soeben durch die Begünstigten des Sonderstatus zurückgewiesen. Vielen Dank dafür!
Drittens: Eine EU, die den kräftigen Tritt in den Allerwertesten den ihr das UK-Referendum verpasst hat, zum Anlass nimmt, neuen Anlauf zu nehmen. Das Projekt EU ist über die Zeit versandet und kommt bei denen, die am meisten davon profitieren sollen – nämlich den EU-Bürgern – nicht mehr gut an. Die Alternativen wären aber Rückfall in nationale Alleingänge und das Ende der längsten Friedensperiode der Neuzeit. Wer das bezahlen dürfte? Man braucht sicherlich nicht dreimal zu raten.
Viertens: EU-Bürger, die endlich anfangen, sich als das wahrzunehmen, was sie sein sollten: Nicht Mitglieder überkommener und in einer modernen Welt allein nicht existenzfähiger Nationalstaaten sondern Mitglieder einer Kontinental- und idealerweise sogar Weltgemeinschaft. Die „Entscheidung“ der Briten war mehrheitlich getragen von älteren Bürgern, die vermutlich einem Nationalverständnis nachhängen das heute unrealistisch ist – wer glaubt, die eigene Nation sei auf sich gestellt „besser dran“, glaubt auch, man könne die Kolonien wieder einführen. Kapiert’s endlich – das Reich, in dem die Sonne nie untergeht, kann nur eine friedlich zusammenarbeitende Weltgemeinschaft sein. Natürlich sind wir davon noch unendlich weit entfernt, aber die Aufgabe unserer Generation ist doch, zumindest zu verhindern, dass wir uns von diesem Ziel immer weiter entfernen.
Das heißt allerdings nicht, dass ich dem von mir so empfundenen Cameron’schen Credo „Stillstand ist genug Annäherung“ beipflichten würde. Es muss vorangehen. Eine von Vernunft geleitete Erweiterung der EU ist dabei genauso wichtig wie die endlich nötige Bereitschaft, mehr nationale Privilegien in die Hände der Gemeinschaft zu legen. Wir brauchen keinen „Boss vom Bosporus“ um Europas Grenzen zu sichern. Da wo sie gesichert gehören, könnte dies auch ein gemeinschaftlich organisierter Grenzschutz tun. Ich habe gehört, dass es bei knapp 500 Millionen Menschen genügend Leute mit persönlicher und fachlicher Eignung dazu geben soll. Und die äußeren Grenzen zu kontrollieren dürfte einfacher und kostengünstiger sein als die innereuropäischen Kontrollen wieder aufleben zu lassen.
Zumindest letzteres müsste sogar den extrem national eingestellten Briten einleuchten: Klar kann man seine Insel abschotten und jeden der rein will bis zum Exzess kontrollieren. Klemmt man sich aber diesen Kontrollwahn weil man der Gemeinschaft, der man angehört, vertraut, kann man die Kräfte mit in eine gemeinschaftliche Grenzsicherung investieren – man kontrolliert nicht erst, wer in’s glorreiche Vereinigte Königreich einreisen möchte, sondern schon, wer „von draußen“ in die EU kommt. Für die Briten besonders komfortabel: Echte eigene Außengrenzen, die dabei zu kontrollieren wären, haben sie ja nicht mehr. Abgesehen vielleicht von Bootsflüchtlingen, aber selbst die wären nicht so wahnsinnig, sich DEN Umweg anzutun.
Und noch eine Lehre gilt es, aus dem Referendum zu ziehen: Auch im Zeitalter der Demokratie ist es nicht ratsam, ohne Not schwerwiegende Entscheidungen in die Hände eines unzureichend informierten und emotionalisierten Volkes zu legen. Manchmal müssen Politiker den Job, für den sie gewählt sind, sauber zu Ende bringen und anschließend das Wahlvolk darüber entscheiden lassen ob sie das mit einer Mandatsverlängerung danken. Tun sie das nicht, ist das eben das Berufsrisiko demokratisch gewählter Regierungen. Und wer sich nicht entscheiden kann, wie der Job, für den er gewählt wurde, richtig zu machen ist, der sollte nicht den Wähler fragen – sondern lieber zurücktreten und den Wähler entscheiden lassen, wer diesen Job besser machen soll. Wie heißt es im Amtseid unserer Regierungsvertreter: „…seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden…“ – die sich den Spruch ausdachten, haben es verstanden.
Mr Cameron, dem politischen Auslaufmodell dessen tatsächliche Gründe für plötzliche Tränendrüsenaktivität mir weiter unklar sind, kann ich nur zurufen: Heul doch!