Es ist doch faszinierend – kaum gibt es mal wieder eine Kontroverse um eine Person des mehr oder weniger öffentlichen Lebens, schon ranken sich auch wieder umfassende politische Fantasien um dieselbe.
Insbesondere bei der SPD scheint es fast schon zum guten Ton zu gehören, dass man ungeliebten Parteimitgliedern pauschal die Gründung einer neuen, eine bestimmte Zielgruppe adressierenden Partei zutraut – und unsere allseits geschätzten „Meinungsforscher“ müssen dann auch prompt deren imaginäres Wählerpotenzial ausloten. So aktuell geschehen im Fall Thilo Sarrazin.
Das brisante dabei: So eine Umfrage zu machen ist eines, wie die Presse damit umgeht, ein völlig anderes. So macht ein Massenblatt heute damit auf, 18% würden eine von Herrn Sarrazin angeführte Partei wählen. Dabei ist eine solche Aussage in mehrerlei Hinsicht höchst kritisch zu sehen – und dabei möchte ich die vordergründigen Thesen von Herrn Sarrazin (also das, was durch die Schlagzeilen geht) und was möglicherweise an Überlegungen dahintersteckt, noch nicht mal analysieren:
Erstens sollte man mal schauen, was denn eigentlich gefragt wurde. Offenbar war die Fragestellung: „Könnten Sie sich vorstellen, eine neue Partei zu wählen, wenn Thilo Sarrazin Vorsitzender dieser Partei wäre?“ – das Ergebnis lautete 18% Ja, 74% Nein. Die Frage „würden Sie’s auch tun wenn nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“ ist allerdings nicht gestellt worden (oder zumindest nicht Bestandteil der Berichterstattung). Wieviele Parteien oder Gruppierungen haben zuvor schon auf Basis derartiger „Analysen“ niederschmetternde Wahlschlappen erlitten? 18% „könnte-mir-vorstellen“ können da rasend schnell an der 5%-Hürde scheitern, denn:
Die Umfrage fragt nach einer Partei unter Führung einer bestimmten Person. Wer sich mal angeschaut hat, wie Parteien funktionieren, weiss genau, dass eine einzige Person mit ihren Ansichten nur für einen sehr überschaubaren Zeitraum Strahlkraft entwickeln kann – man denke nur an die inzwischen glücklicherweise zur Geschichte gehörende „Schill-Partei“. Auch andere Parteien, insbesondere des rechten Spektrums, sind nach Verlust oder interner Einbremsung gewisser Thesen- und Phrasendrescher sehr schnell wieder in der Bedeutungslosigkeit versunken.
Zweitens aber bedeuten ein paar die Presse und allgemeine Diskussion vorübergehend anheizende Thesen noch gar nichts für ein Wahlprogramm einer Partei. Auch die Piraten hatten durchaus einen Sympathiebonus, konnten sich am Ende aber in den ersten Anläufen nicht so weit wie erhofft durchsetzen, weil das breit gefächerte Programm mit Perspektiven für die wesentlichen (wenn schon nicht alle) Bereiche des täglichen Lebens fehlte. Was nicht die mitunter unverständlichen, aufgeweichten und überfrachteten Programme der „Etablierten“ als Maß aller Dinge erscheinen lassen soll.
Drittens schließt der „Dissident“ im vorliegenden Fall derzeit aus, eine neue Partei gründen zu wollen. Einer Person mit seinem Hintergrund möchte man das sogar gern glauben, obwohl auch andere, grundsätzlich glaubwürdige Abweichler in der Vergangenheit die Wahl einer neuen politischen Heimat, vor allem aber die gefürchtete Gründung einer solchen, gern pauschal abgelehnt, im Nachhinein aber doch durchgezogen haben. Dass es keine Sarrazin-Partei geben wird, glaube ich am Ende also nur, wenn der gute Mann sich auf’s Bücher schreiben und Vorträge halten bescheiden sollte, und sich die Aufregung um seine Person mangels hochrangiger Amtsträgerschaft gelegt haben wird.
Wenn also eine Partei sich mit dem Wunsch trägt, sich von einem „auffällig gewordenen“ Mitglied zu trennen, sollte sie sich von derlei journalistisch gepushten „Meinungsbildern“ beeinflussen lassen? Ich denke nein. Zweifelsfrei würde die Gründung einer neuen Partei spontan einige – vorrangig auf Protestwahl bedachte oder extrem kurzsichtig denkende – Wähler an- und von den etablierten Parteien abziehen. Das hat es oft genug gegeben. Wenn das aber passiert, dann betrifft es mit Sicherheit mehrere Parteien gleichermaßen, denn umfassende Zufriedenheit in ihrer Anhängerschaft bekommt derzeit keine von ihnen mehr auf die Kette (falls es überhaupt je eine konnte – das ist halt ein inhärentes Problem des Parteiensystems). Im schlimmsten (oder aus anderem Blickwinkel besten) Fall wäre ein solcher Vorfall ein Warnschuss und ein Anreiz für besagte Etablierte, die Fehler ihrer Wege zu erkennen und abzustellen.
Dass die Schwelle zwischen Optimismus und Träumerei bei dieser Erwartung eher fließend ist, ist mir klar…